Mal eine andere Meinung:
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Praxiserfahrungen mit «100% Stickstoff im Pneu»: Neuerdings bieten einige Reifenspezialisten und Garagen statt Luft reinen Stickstoff als Reifenfüllung an. Gibt es dafür alltagsrelevante Argumente?
Luft ist das die Erde umgebende Gasgemisch, welches für die Existenz der meisten Lebewesen wegen des Sauerstoffgehalts, des Druckes und des Strahlenschutzes notwendig ist. So haben wir es in der Schule gelernt. Eine Eigenschaft von Luft besteht darin, Dinge tragen zu können, wenn man sie dicht ein-schliesst, eine andere, dass sie praktisch unbegrenzt zur Verfügung steht. Garagen oder Tankstellen getrauen sich deshalb eher selten, Luftdruckkorrekturen zu fakturieren oder gar die abgefüllte Luft in Rechnung zu stellen. Luft ist Allgemeingut.
Sonderbar ist es eigentlich schon, denn schliesslich erfordert das Befüllen der Reifen Installationen und Zeitaufwand. Aber wir haben uns gerne daran gewöhnt.
Wenn jetzt findige Geschäftemacher darauf kommen, den Garagisten und Tankstellenbetreibern weiszumachen, mit dem Pumpen von Reifen Geld verdienen zu können, so ist das eine Hinterfragung wert. Zwischen sieben und neun Franken werden im Autogewerbe pro Rad dafür verlangt, statt dem natürlichen Gasgemisch Luft reinen Stickstoff in die Pneus zu drücken. Absurd genug, weil Luft zu 78,09% aus Stickstoff besteht. Der grosse Rest ist Sauerstoff (20,95%); schliesslich finden sich darin noch Argon (0,93%), Kohlendioxid (0,3%) sowie Spuren von Neon und Helium.
«Sicherheit, Haltbarkeit und Komfort», versprechen uns Reifenfachleute, würden durch die Befüllung mit reinem Stickstoff positiv beeinflusst. Um dies zu unterstreichen, führen sie an, dass im Rennsport und in der Luftfahrt schon lange mit reinem Stickstoff (chemisches Zeichen N2) gearbeitet wird. Die Spezialisten weisen darauf hin, dass ein mit reinem Stickstoff gefülltes Rad den Druck wesentlich konstanter hält, weil die dickeren Stickstoffmoleküle weniger leicht durch die Gummiwand hindurch diffundieren können. Die für ein bestimmtes Rennen eruierten optimalen Temperaturverhältnisse im Pneu bleiben stabil (an der Reifenoberfläche allerdings nicht, dafür benötigt man Heizdecken). Den Hinweis, dass man den Luftdruck nicht bei warmen Reifen, sondern nur im kalten Zustand kontrollieren soll, kennen die meisten Autofahrer aus den Betriebsanleitungen, was sich aus der Eigenschaft ableitet, dass der Druck bei heisser werdendem Reifen ansteigt. Dies kann man verifizieren, und Vergleichsfahrten mit einem Ford Focus (205/50x16-Bereifung) haben dies bestätigt: Nach langen Etappen auf nicht tempolimitierten Autobahnen stieg der Druck ziemlich gleichmässig an allen vier Rädern um bis zu 15% an, mit N2-Befüllung aber nicht.
Eins zu null für die Geschäftemacher, könnte man also sagen, denn stabile Verhältnisse sind auch für Alltagsfahrer wesentlich. Dabei müsste man einschränkend aber erwähnen, dass dies nur unter der Voraussetzung gilt, dass der Fahrer den Reifendruck jedes Mal gemäss den Werksvorschriften anpasst, wenn er mit viel Zuladung oder mit hoher Geschwindigkeit fahren will. Und ob er dies jedes Mal mit reinem Stickstoff tun kann, darf bezweifelt werden. Sinn kann die Stickstoffoperation demnach nur machen, wenn man seine Autosohlen permanent mit jenem Wert gepumpt hat, der für extremste Belastung vorgeschrieben ist.
Eine andere Behauptung kann der Autofahrer ebenfalls selber überprüfen, braucht dafür aber ziemlich viel Zeit. Versprochen wird nämlich, dass sich der mögliche Druckverlust dank reinem Stickstoff um bis zu 75% verringert - ein wesentliches, weil sicherheitsrelevantes Argument, das wir aber nur zurückhaltend benoten würden. Einerseits sind nämlich die Verluste im normalen Leben eines modernen Reifens eher gering: Ein von März bis Anfang November gelagertes Winterreifen-Set hatte - geprüft an der gleichen Messstelle - an keinem der vier Reifen einen Punkt hinter dem Komma verloren. Problematischer sind Druckverluste, welche beispielsweise durch unvorsichtiges Parkieren an Bordsteinen passieren, und da kann sich, wenn man Pech hat, auch Stickstoff unbemerkt aus dem Reifen verflüchtigen. Wollte man nun das Malheur raschmöglichst korrigieren und den Druck zum Beispiel an einer Tankstelle wieder anpassen, hätte man bereits wieder «unreinen» Stickstoff eingebracht.
Beim Umsteigen auf reinen Stickstoff genügt Luftablassen nicht, um den Reifen neu mit N2 zu pumpen. Man muss - das Ventil sollte dabei oben stehen - den Reifen mit einer Stickstofffüllung «spülen», nochmals leeren und schliesslich definitiv mit Stickstoff aufpumpen. Sonst kommt man nicht an die Mindestforderung von 95% Stickstoff heran, wie sie im Rennsport angestrebt wird.
Wir bezweifeln, dass die Stickstoffverkäufer dieses Prozedere in einer Garage oder einem Pneuhaus wirklich lupenrein durchführen: Der verlangte Preis für den Aufwand scheint uns zu gering. Wir haben mit Hilfe des Pirelli-Reifendienstes und der Amag den ganzen Aufwand erlebt und mit einem Porsche 911 Turbo die weiterhin versprochenen Vorteile von stickstoffbefüllten Reifen auf einem abgesperrten Slalomkurs, auf einer parziell mit regelmässig groben Querfugen bestückten Strecke sowie auf normalen Strassen und Autobahnen gesucht. Die erste Erfahrung: Man bildet sich im Laufe der Fahndung nach Veränderungen einiges ein. Unser Turbo schien nach der Stickstoffprozedur tatsächlich etwas leiser abzurollen und schöner anzufedern. Erst nach dem Umsteigen in einen zweiten, mit 100% Luft befüllten Turbo relativierte sich das Bild. Es gibt keine spürbaren Verbesserungen in komfortrelevanter Hinsicht.
Der Grund für diese Täuschung: Angereist mit einem diskreten Mittelklasseauto, musste man sich zuerst an den Turbo mit seinen Riesenwalzen gewöhnen. Mit jedem Kilometer erschien der Porsche komfortabler, mit oder ohne Stickstoffbefüllung. So sind unsere Fahreindrücke zwar negativ ausgefallen, aber grundsätzlich abraten wollen wir davon nicht, künftig die Reifen mit reinem Stickstoff zu verwöhnen. Denn er kann, ein weiterer Vorteil, dank dem Fehlen von Sauerstoff die Oxydation der Karkasse verringern und damit den Alterungsprozess der Reifen hinauszögern. Und es gibt, für Alltagsfahrer zwar von wenig Belang, weitere aus dem Rennsport bekannte Vorteile wie die höhere Temperaturbeständigkeit. Verschiedene Amag- und BMW-Garagen sowie vereinzelt andere Markenvertreter bieten diesen Spezialdienst bereits an, auch einige Reifenhäuser sind dabei. Man kann davon ausgehen, dass «Stickstoff» in naher Zukunft an Stammtischen einen gewissen Stellenwert bekommt. Stickstoff könnte sich als Modewort in Benzingespräche einschleichen. Schliesslich ist es nichts Neues, dass mit Prestige Geld verdient werden kann.
Was wir auf keinen Fall empfehlen ist, nach einer Stickstoff-Pneufüllung darauf zu vertrauen, dass es keinen Druckverlust mehr gibt und man ergo den Reifendruck nicht mehr kontrollieren soll.
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Gruß,
Harald
P.S.: Ich halte es auch für Geldmacherei und prüfe meinen Luftdruck ab und zu kostenlos an der Tankstelle
